Selbstfürsorge
Ich spreche meine Therapeutin darauf an, dass mich die aktuellen Geschehnisse überall auf der Welt beschäftigen wie kaum etwas anderes. Den Aufstieg autoritärer Systeme keine 100 Jahre nach dem Niedergang der letzten sehen zu müssen, erfüllt mich mit Angst, mehr als irgend etwas anderes es kann. Die Menschheit kann doch nicht so dumm sein und wieder und immer wieder auf die gleichen Muster reinfallen, die selbst in Popkultur mal mehr, mal weniger subtil aufgezeigt werden. Sei es der Klassiker "1984" von George Orwell oder die Star Wars Teile I bis III und die Geschichten dazwischen, die dystopischen Werke von Alduous Huxley und Co.: selten lassen sich keine Parallelen zur ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts oder den aktuellen Entwicklungen, vor allem in Amerika, ziehen.
Ihre Antwort: "Sie müssen selbst für sich sorgen, Politik wird sich selten für Sie einsetzen. Sorgen Sie dafür, dass Sie selbst mit Ihren Handlungen und Entscheidungen zufrieden sind, das ist das Wichtigste."
Auch wenn das irgendwie Thema verfehlt war - schließlich geht es mir nicht um den direkten Einfluss politischer Entscheidungen auf mich, sondern um das Erstarken faschistischer Kräfte und die Gefahren des Kapitals für unsere Demokratie - hat sie nicht unrecht. Ich muss für mich selbst sorgen. Da wäre ich auf einem sehr guten Weg meint sie. Sehe ich derzeit auch so. Abwarten, Tag für Tag, Woche für Woche in die Zukunft. Was sie diesmal nicht dazu sagte, sonst aber mitberücksichtigt: Ein gesundes Unterstützungsnetzwerk von Familie, Freundschaften und allgemein Zufriedenheit mit dem eigenen Arbeits- und Freizeitsumfeld sind auch wichtige Zutaten für psychische Stabilität.
Aber sie hat ja schon irgendwie Recht, ich muss für mich selbst sorgen, und wenn ich zufrieden mit dem bin, was ich selbst für mich mache, dann ist ein Großteil schon geschafft. Also wieso nicht die radikalste Form der Selbstfürsorge wählen? Viel hilft viel und hilft direkt bei sämtlichen Problemen. Viele Menschen - außerhalb, aber auch innerhalb der Bergsport-Blase - sehen Soloaktionen kritisch. Mit dem Hintergrundwissen, dass ich psychisch krank bin, kann das ja auch gar nicht rational und nicht mit (unter-)bewussten Problemen zu tun haben. Ob wohl alle ambitionierten Alpinist*innen psychisch krank sind/waren? Ist es überhaupt möglich, sich für Soloaktionen zu entscheiden, ohne jemals im Leben mit bipolaren Störungen und anderen mehr oder weniger spaßigen Themen zu tun gehabt haben? Ich denke als Antwort ja gerne: ja, natürlich! Nur in solchen Situationen, in denen mir meine Psyche wieder aufzeigt wie zufällig alles sein kann, bin ich mir da nicht so sicher. Auch wenn ich gerade eine schwerere Zeit durchmache, wenn ich mir etwas antun wollen würde, gäbe es in meinem nahen Umfeld in der Stadt wesentlich mehr wesentlich einfachere Möglichkeiten. Und wenn ich irgendwie unterbewusst nicht zurückkommen wollen würde, würde ich dann tagelang planen und mich auf mögliche Szenarien einstellen und vorbereiten? Würde ich dann nicht bei der erstbesten Möglichkeit die Hände öffnen und mich nach hinten lehnen? Vermutlich ja.
Soloklettern. Selbstfürsorge. Viele Übereinstimmungen. Selbstfürsorge heißt, sich um sich selbst zu kümmern, mit Situationen fertig zu werden und das bestmögliche für sich herauszuholen, ohne sich dafür irgendwie zu schaden. Und das komplett souverän, selbstständig. Daher ja der Name. Selbst für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu tun, was selbst machbar ist. In jeder Situation.
Sich selbst in eine Situation zu begeben, die gerade wie auch immer ein Bedürfnis darstellt, mir selbst gut tut, ist Selbstfürsorge. In dieser Situation die richtigen Entscheidungen zu treffen, um mich richtig und sicher durch die Situation zu bringen, ist Selbstfürsorge. Durch Anstrengung schneller auftretende Bedürfnisse nach Essen und Trinken akut und nachhaltig managen? Ebenso Selbstfürsorge. Dafür zu sorgen, dass man wieder zurückkehrt: Selbstfürsorge! Durch das Alleinsein auf mich alleine gestellt zu sein, nur mit mir und einem relativ kleinen Restrisiko? Macht die Situation zur Selbstfürsorge, wie das Begeben in die Situation und das erfolgreiche Heraustreten aus ihr auch. Erfolgreich bin ich allein dadurch, dass ich wieder hinauskomme. Egal von wo.
Selbstfürsorge ist eigentlich immer und überall. Nur selten so intensiv, so unmittelbar, so akut und andauernd wie bei Soloaktionen. Sollte ich nur noch alleine unterwegs sein? Auf gar keinen Fall, dadurch wäre direkte Selbstfürsorge beim Unterwegssein alleine nur noch wenig besonders. Und Restrisiko addiert sich auf. Also lieber nicht übertreiben, Qualität statt Quantität. Nur bei den wirklich wichtigen Situationen nach dem starken Stoff greifen, Abhängigkeiten vermeiden. So sollte es doch möglich sein, dem Ideal des besten Bergsteigers (zumindest, wenn es nach Reinhold Messner geht) zu entsprechen: Alt zu werden.
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