Stockhorn (2190m) - Tschabold, 200m M4

Oder: Winter ist anders

Manche Sachen haben eine lange Geschichte. So auch das Stockhorn, welches im Berner Oberland zur ersten Riege der etwas höheren Gipfel zählt und mit seinem Gipfelaufbau über dem Thuner See thront. Bereits dreimal war ich hier, um irgendetwas an der Nordwand zu klettern. Zweimal haben uns angespanntere Lawinenverhältnisse zur Rückkehr beziehungsweise zum Nichtstart geführt, beim letzten Mal zwei Tage zuvor mögliche und wahrscheinliche Zeitprobleme. Also: Versuch Nummer vier!
Irgendwie schaut diese Mixedkletterei von oben häufig total uninteressant aus...

Diesmal sind wir, im Gegensatz zum Versuch vor zwei Tagen nur zu zweit unterwegs, in altbekannt-neuer Konstellation mit Isabel. Als Ziel ist schnell die (vermeintlich) leichteste Route durch die Wand auserkoren, die Tschabold-Führe. Mit vielen Quergängen streckt sie die Kletterlänge deutlich über die der alternativen Wege durch die Wand. Und da sie auch am weitesten westlich beginnt, ist der Zustieg besonders kurz. 

Heute fährt die Bahn auch bis ganz oben, im Gegensatz zu vorgestern ist die Sache dadurch wesentlich weniger komplex und wir haben uns kaum mit steilen Hängen zu befassen. Nett! In der Bahnstation mit Panoramarestaurant nutzen wir noch kurz die Sanitäranlagen, ehe mit einer zweiten Seilschaft der Zustieg zur Scharte am Westgrat angepeilt wird. 

Große Rucksäcke? Eine Frage der Perspektive!

Der ist nach den Schneefällen am Vortag nicht mehr wiederzuerkennen, aber eigentlich straight forward: einfach der Wand entlang. Keine Viertelstunde später sind wir am Einstieg, der mit einer Plakette markiert ist. Aus Mangel an (sichtbarem?) Stand stopfe ich einen 3er-Cam in das nächstbeste Loch, hält dank Verjüngung und zum Anseilen am Wandfuß reicht's allemal. 
Als Isabel ihre Kamera auspackt, fällt mir siedend heiß ein, welches Foto ich schon seit Urzeiten machen wollte:
Lecker!

Fotosession beendet, los geht's!

Seillänge 1 führt zuerst über einen mit Steigeisen nicht ganz einfach zu kletternden Aufschwung, der dann in eine Verschneidung führt. Zumindest ist das der Weg, der sich mir aufdrängt, Haken hatte es nirgendwo (sichtbar). Also rein da. Leider ist der Riss im Verschneidungsgrund genau für Camgröße Nummer 3, also sind erstmal die weiter oben liegenden Verjüngungen anzuklettern, dann lässt sich auch legen. Über perfekt durchgefrorene Graspolster und Schnee geht's weiter aufwärts, unter einen weiteren Felsaufschwung. Ich schaue zuerst nach Haken, sehe aber an den dafür infragekommenden Stellen nix. Aber weiter links steckt auf ziemlich komischer Höhe ein einzelner Bohrhaken neueren Datums. Ich schaufle rundherum frei auf der Suche nach einem zweiten Fixpunkt, aber zu finden ist nix. also Schlinge einhängen und mich unten festmachen. Ich hole Isabel nach und wir sind uns unsicher, ob wir auf einem sehr breiten Band etwas unterhalb bereits die lange Querung beginnen sollten oder ob es eines der weiter oben liegenden Bänder sei. Ich lasse sie ab und scouten, wie das untere Band aussieht. Sehr einfach, Gehgelände, abere eben auch kein Material. Etwas ratlos sind wir hier, weil wirklich überall schaut's komisch aus. Zudück am Stand beschließen wir, sämtliche Möglichkeiten auszuchecken, bevor wir unten auskneifen und uns in eine unter Umständen doofe Lage befödern.

Seillänge 1.5 führt mich vom Bohrhaken nach rechts oben, wo ich eine Verschneidung ansehe, die ich mir vorhin bereits kurz angesehen hatte. Sieht noch immer schräg aus. Also schaufeln. Den einen Kubikmeter werde ich hier sicher freigelegt haben, aber das war auch nötig: So offenbaren sich auf der Platte Trittmöglichkeiten, auch wenn keine Sicherung auftaut. Nach diesen drei Metern ist die Wiese wieder gemäht bzw. gefroren und über ein solches Gras-Schneefeld geht's bergauf. An einem Haken hängt ein alter Karabiner, vermutlich aus einem Rückzug. Auch hier ist rundherum weder Haken noch Placement zu finden, aber es handelt sich auch hier wieder um einen Bohrhaken neueren Datums, also basst scho!

Seillänge 2 führt dann klar und deutlich über ein Band nach links hinter einem Zacken und dann weiter, nie in Kletterei. Zum Schluss führt das Band nach oben, Standplatz ist entweder an einem Borhaken mit Schlinge oder einer Zackenschlinge weiter links einzurichten. Der Bohrhaken bietet sich zum Sichern der nächsten Länge eher an, sonst gibt's mehr als genug Seilreibung beim Nachsichern. 

Seillänge 3 ist dann die erste Crux der Route. Im Chatelan-Führer als auch im Schüpbach-Topo mit M4 bewertet, laut Führer auch mit zwei Bohrhaken als Zwischensicherung. Nun ja, direkt durch einen Riss oberhalb des Stands rauf in unserer Variante gab es die nicht, ein einziger Normalhaken war aufzufinden. Der Riss lässt sich aber vermeintlich (warum, dazu gleich) absichern. Nicht nur die Absicherung ist etwas anders als erwartet, denn wer hier mit Reserven für M4 anrückt, dürfte kaum eine Chance haben. Der Riss wäre zwar bestens mit Händen zu klettern, allerdings gibt es halbwegs gute Tritte nur links und die rechte Seite drängt ab. Mit Händen und Fäusten zu klemmen macht es kaum möglich, die Füße höherzustellen, weil man so sehr im Riss hängt. Also mit Geräten. Irgendwie finden sich da immer wieder Hooks, aber nicht ganz durchgehend, sodass ich einzelne Züge mit auf Drehmoment verkeiltem Gerätekopf- und Schaft geklettert bin. Ich bin schon einige schwerer bewertete Seillängen geklettert, die einfacher waren als das. Aber weiter im Text: Im Ausstieg aus dem Riss darf noch delikat über eine abschüssige Platte gequert werden, ehe es weiter nach oben und links geht. Auf einem Band, versteht sich. Stand habe ich dann an einem Uralt-Bohrhaken und einem Normalhaken bezogen, die sich neben einem Routenschild für den Berner-Riss befanden. 
Im Nachstieg scheint Isabel etwas zu fluchen, und plötzlich ruckt das Seil. Ein 0.3er-Cam, den ich für den Quergang für Isabel gelgt hatte, fliegt raus. Nach ein wenig Rumprobieren kommt die Frage nach mechanischer Unterstützung. Ich baue kurz einen kleinen Flaschenzug am Seil auf und helfe mit. Am Stand dann die Story: einer meiner Cams, ein 2er, kam Isabel entgegen, als sie daran Nullen wollte. That makes two! In dieser Gegend sind die Cams also wirklich besser in Rissen mit Verjüngungen aufgehoben.
 
"Stand!"

Nach der ersten Cruxlänge. Schaut schon wieder kaum nach Klettern aus...

Die nächsten ein bis zwei Seillängen bieten maximal Gehgelände auf dem breiten Band, also binden wir uns aus und Isabel startet den Quergang, damit wir am nächsten Stand das Seil direkt richtig herum haben. Dort angekommen treffen wir die Seilschaft, die mit uns in der Bahn war, sie sind die "Mülloch" geklettert und wollen den Direktausstieg über die "Mottes au neige" klettern. 

Ich beginne mit Seillänge 4, die einfach in die Rinne und darin aufwärts führt. M2 und keine Haken, aber auch nicht nötig. Da die nächste Länge auch mit M2 bewertet ist und auch in der Rinne verläuft, biete ich Isabel den Vorstieg an, sie konnte eben ja schauen, wie sich das zu erwartende Gelände so verhält. Nach etwas Überlegung stimmt sie meinem Vorschlag zu (ich bin froh, so muss ich hier auf engem Raum nicht das Seil sortieren).
Erste Gullylänge: keine Sicherung (sichtbar), aber (dadurch) auch nicht notwendig.

Rückblick über das breite Schneeband, die Spur der Seilschaft von rechts kommt aus dem Kamin der Mülloch. 

Seillänge 5 führt wie bereits ausgeführt weiter durch die Rinne, M2. Hier ändert sich der Charakter aber, es wird eher kaminig. Also Rausfallen ist unwahrscheinlicher als alles andere. Lässt sich zudem aber auch noch mit Schlingen absichern. Der Standplatz nach der Seillänge ist üppig schön, auf einer Art kleinen Kante, auf der anderen Seite ist die Rinne mehr eine tiefe Schlucht. Und über der ist der Thuner See und das Flachland zu sehen. Wir schieben etwas Zeitdruck, also schnell weiter.
Die zweite Gullylänge: Eng wird's hier!


Seillänge 6 ist die zweite Crux der Route. Vom Stand weg zuerst kurz nach links, was sich zuerst heikel anfühlt, als ich die Platte aber freigeputzt hab, muss ich nicht mehr darauf rumkratzen und kann die Riesentritte stehen und entspannt die fragwürdigen Hooks oben nutzen. Dann ist der Weiterweg klar: Eine Rampe führt nach rechts. Plattige Struktur macht das wesentlich härter, als es im Sommer mit Gummi unter den Sohlen wäre. Die Seitenwand ist erst recht gut strukturiert - auch ein Normalhaken lässt sich hier einhängen- aber gegen Ende hin immer weniger. Hier befindet sich dann ein Bohrhaken. Nun wird die Sache etwas komisch, die Rampe wird nach unten verlassen, wo ein kleines Band weiterführt. Dieses Band muss ich erst einmal von Schnee befreien, da ich sonst nicht wüsste, ob ich auf etwas anstehen möchte, wo ich Chancen auf Halt oder eben nicht habe. Bis hierher alles nur Kopfsache. Weiter rauf geht's dann wieder dort, wo der Fels leicht bröslig aussieht. Auch ein Normalhaken ist zu finden. Hooks hat es ein paar halbwegs gute, aber Tritte sind Fehlanzeige, bis auf Hüfthöhe. Und mit dem Winterkram so hoch anstehen geht sowieso meist nicht wegen schlechter Belastungsrichtung. Also kommt das alpine Knie zum Einsatz. Funktioniert! Allerdings nur, bis ich nicht mehr weiterkomme: Meine Leash hängt in der Exe unten. Also lege ich einen halbwegs okayen Cam und klettere ab, um meine Leash zu befreien. Das Gleiche passiert mir dooferweise beim Topout ins Gras nochmal am Cam, also wieder retour und da rumfummeln. Im Ausstieg dann gibt's gefrorene Grasbüschel erster Güte und auch mal steil. Stand an zwei Bohrhaken leicht rechts überhalb des Ausstiegs der Verschneidung. 
In beiden Topos ist Länge 6 die letzte eingezeichnete Länge, aber bis ins leichte Gelände ist es noch ein wenig.
Isabel auf der Rampe vor der Crux, in der Ferne Thun mit dem gleichbenannten See.

Hier werkelt sie gerade an der Crux, die ins steile Gras-Schnee-Gelände führt.

Seillänge 7 ist in keinem Topo zu finden, darf aber auch nicht verschwiegen werden. Ein Bohrhaken direkt nach dem Stand und einer etwas seitlich unterhalb einer etwas schwereren Stelle sind die einzige Sicherung. Und das Gelände hier ist gut steil. Klettertechnisch nicht wirklich großartig nennenswert, ein paarmal darf komisch felsig-strukturlos angetreten werden, während die Geräte mit sattem Geräusch im Gras verschwunden sind, aber sonst handelt es sich nur um runout eisartige Kletterei an Graspolstern und Schnee. Ich beschließe, nicht irgendwo vor dem Grat Stand zu beziehen, sondern weiterzugehen; so könnten wir vielleicht ein wenig Zeit sparen. Kommuniziere nach unten, dass ich entweder über den Grat oder an Schlingen oder so nachsichern werde, sobald das Seil aus ist, kann Isabel nachkommen. Ich toppe aus im kitschigsten vorstellbaren Abendlicht, das rötlich-gold über den Bergen im Westen liegt. Der Nebel und die Wolken des Tages sind nirgends mehr zu sehen. Irre!
Isabel kommt nach und wir beglückwünschen uns, nicht die letzte Bahn verpasst zu haben. 

Der Abstieg ist kurz und einfach: über den Grat zum umsperrten Gipfelbereich, mithilfe eines Holzblocks in Stufenform ins "Gesicherte" und über den gut ausgebauten Weg zur Station. Dort haben wir sogar noch über 20 Minuten, um das erste Mal nach dem Frühstück wieder zu essen und unser Material zu sortieren und abzulegen. Cheers!

Davor war es einfach nur goldenes Licht, das noch über die Gipfel im Westen gelangte, hier bereits farblich ausdifferenzierter. Kitsch!

Facts: Stockhorn (2190m) - Tschabold
Länge: 250m auf ca. 7 Seillängen
Erstbegehung: Fritz Tschabold, Ernst Egger 1928
Schwierigkeiten: M4, aber M5 wäre auch nicht zu hoch gegriffen auf unserer Linie.
Absicherung: Stände meist an Bohrhaken neueren Datums, vereinzelt auch ältere. Wenige Zwischenhaken, meist Normalhaken. Absicherung mit Cams meist vernünftig möglich.
Material: 10 Exen, Cams, Keile, für den Winternotfall ein kleines Hakensortiment
Fazit: Schöne Wand, eindrückliche Linie. Die Kletterei ist zwar schön, begeistert aber im Ganzen nicht so sehr. Wenn ich die Route vergleichen würde, wäre das Vergleichsobjekt die klassische Rubihorn Nordwand. Beide Routen haben viel einfaches Gelände, die Tschabold hat die Nase bei der Kletterei aber doch ein wenig weiter vorne. Auf jeden Fall aber ist die Tschabold wesentlich anspruchsvoller, sowohl was die Kletterschwierigkeiten anbelangt (trotz ähnlicher Bewertung), als auch die Absicherung und Absicherbarkeit. 

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