Komplexitätsverweigerung
Um einmal mit einer aus der Popkultur bekannten Theorie zu beginnen: Mal angenommen, an jedem Entscheidungspunkt in der Geschichte gibt es zwei Entscheidungsmöglichkeiten, die jede einzeln ein Paralleluniversum beginnen würden. Was hätte eine solche Sicht auf den Geschichtsverlauf an Folgen? Über dieses Gedankenspiel kann uns bewusst werden, wie komplex die Welt eigentlich ist. Und dass die Komplexität immer weiter, exponentiell und schneller, zunehmen wird.
Diese Entwicklung z.B. exponentiellen Wachstums kann sehr gut mit einem Baumdiagramm sichtbar gemacht werden. Es zeigt sich: Schon nach 5 Durchgängen mit jeweils zwei Handlungsoptionen wären wir bei 65.536 möglichen Universen. Und jetzt hat die Komplexität der Welt ja meist nicht nur mit 1 oder 0, sprich einfachen Entweder-oder-Entscheidungen zu tun.
Komplexität, die wohl viele Menschen nicht haben wollen, findet sich nicht nur in der Geschichte, die eigentlich bereits seit mehr als einhundert Jahren eine teleologische Sichtweise abgelegen konnte. Nein, auch die Komplexität des menschlichen Erbguts - sprich: der Diversität aller Menschen - hat es schwer, die Akzeptanz zu bekommen, die ihr gebührt. Das alles hat nämlich zur Folge, dass es eben nicht nur Frau und Mann gibt, dass es eben nicht nur hetero gibt, dass es eben die vielfältigsten Erscheinungsformen von Behinderung und Krankheit gibt. Behinderung ist ja alleine schon so ein Begriff, der deutlich macht: Hier wird irgendwer behindert. Aber wer? Und wodurch? Da könnte man ja auf der einen Seite sagen, die Behinderung existiert bei der betroffenen Person, weil sie - verglichen mit einem großén Ganzen an Menschen - anders ist. Überraschung: Das ist eine reine Setzung. Denn: Wer definiert, wo die Grenzen von normal liegen, wo unnormal anfängt, wo krank anfängt, wo behindert anfängt? Dass es eben Behinderungen gibt, spricht eigentlich dafür, dass unsere Gesellschaft - oder Menschen mit Deutungshoheit - Behinderung schaffen. Durch Infrastruktur, die nur für bestimmte Gruppierungen nutzbar ist, die dadurch als normal definiert und gesetzt werden. Nicht aber für andere Menschen, die dann eben als krank oder behindert definiert und gesetzt werden. Aber sind sie das oder ist die Infrastruktur und damit die Leute, die sie schufen, behindernd?
Fakt ist: Eigentlich sollte es im Jahre 2025 niemensch mehr groß triggern, dass Menschen sich ihr Geschlecht selbst aussuchen können (bei der Geburt gibt es schließlich auch nicht nur 0 und 1, sondern unklare Fälle. Derer gar nicht mal wenige) oder Menschen mit angeborener Behinderung existieren. Trotzdem sind marginalisierte Gruppen allein aufgrund ihrer Existenz politisch. Transfrauen? Nicht vereinbar mit Frauenrechten, weil da könnten ja irgendwelche Männercreeps auf Frauentoiletten Frauen belästigen! Dass das voll am Ziel vorbeischießt (und zwar nach hinten, also deutlich) zeigt: Wir Menschen haben wohl ein Problem mit Komplexität. Sie scheint unsere Identität, die wir als statisch hoffen und denken, zu bedrohen. Dabei ist nichts auf der Welt statisch. Identität schon gar nicht. Zwar bin ich heute noch genauso Hendrik, wie ich es vor zehn Jahren war, aber ich gehe heute nicht mehr zur Schule, habe andere Hobbys, bin erwachsen geworden, bin aktivistisch, politisch und anderweitig ehrenamtlich engagiert, habe mich aus ungesunden Strukturen emanzipiert und kann heute besser als damals sagen: meine Identität wird nicht von irgendwelchen Pseudogefahren bedroht, sondern allein durch kapitalistisch-politische (eigentlich müsste ich das gar nicht mehr trennen, danke BlackRock und CumEx lol) Entscheidungen, die auf gesellschaftliche Prozesse abfärben. Ob das im Gesundheitssystem, im Schulsystem, auf dem Arbeitsmarkt oder wo auch immer ist.
Komplexität macht uns stark. Diversität macht uns stark. Diese Diversität und Komplexität müssen wir verteidigen. Sind sie in Gefahr, sind wir in Gefahr!
Problematisch erscheinen mir Entwicklungen im digitalen Bereich, die maßgeblich zur Vereinfachung beitragen. Immer mehr Aufgaben werden durch Automatisierungsprozesse übernommen – Prozesse, die ursprünglich unser Denken, Planen und Entscheiden erforderten. Dabei ist unser Gehirn, ähnlich wie ein Muskel, auf Nutzung angewiesen: Wenn wir es nicht mehr regelmäßig fordern, verlieren wir allmählich die Fähigkeit, uns mit Komplexität auseinanderzusetzen – oder überhaupt den Versuch zu unternehmen, sie zu durchdringen, selbst wenn sie in manchen Bereichen prinzipiell unüberschaubar bleibt.
AntwortenLöschenAus evolutionsbiologischer Sicht ist diese Entwicklung bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar: Über weite Teile der Menschheitsgeschichte war es überlebenswichtig, Energie zu sparen – Nahrung war knapp, körperliche Anstrengung riskant. Doch was einst ein Vorteil war, wird heute zur Herausforderung: Die Tendenz zur Vereinfachung ist in unserer technisierten Welt nicht mehr zwangsläufig hilfreich – im Gegenteil, sie kann geistige Trägheit fördern.
Was mich besonders stört, ist, wie der durch Automatisierung freigesetzte Raum genutzt wird: Statt ihn in soziale, kreative oder menschlich verbindende Bereiche zu investieren, wird er häufig zur Produktivitätssteigerung verwendet – und damit zur weiteren Beschleunigung und Konsummaximierung.
Dabei zeigen einzelne Menschen immer wieder, dass Veränderung möglich ist: Durch Offenheit und bewusste Entscheidung lassen sich kulturelle Entwicklungen nicht nur aufhalten, sondern auch neu gestalten – im besten Fall in eine Richtung, die das Menschliche wieder stärker in den Mittelpunkt rückt.
sehr wahre Worte! Wenn ich da noch ein wenig reininterpretieren darf: Binäres Denken, 0 oder 1, tertium non datur: daraus besteht der digitale Bereich im Grundlegenden. Wie sollte er dann auch andere Vorgehensweisen zutage bringen? Reproduktion von Wissen, keine aktive Auseinandersetzung damit werden durch KI-Systeme wie Large Language Models und Co. immer seltener. Ich muss schließlich nicht einmal mehr wissen, wie ich richtige Suchmaschinenanfragen stelle, muss nur sagen, was ich will. Die Quellen, die für das Ergebnis herangezogen werden? Kaum bis nicht veränderbar für private Nutzer*innen derzeit. Wie soll bei solchen Entwicklungen etwas anderes passieren?
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