Zwischen Individualismus und Nationalismus - Das schwierige Erbe des Alpinismus

Seit je her strahlt der Alpinismus, ja eigentlich das Bergsteigen generell, den Charme einer alternativen Beschäftigung beziehungsweise Sportart aus. Viele der (wenigen) Pionierinnen und (wesentlich mehr) Pioniere strahlten und strahlen auch heute noch den Drang nach Freiheit, Unbestimmtheit aus. Denken wir nur an Paul Preuss am Anfang des 20. Jahrhunderts oder aktueller Alex Honnold im 21. Jahrhundert. Nicht selten legten sie sich mit den herrschenden Konventionen an - sei es als Frau in Männerkleidung, um überhaupt mitgenommen zu werden oder das Missachten von Befehlen der Autoritäten - oder setzten sich kritisch mit geltenden Normen auseinander. Aber wie so ziemlich alles im Leben hatte und hat auch das UNESCO-Weltkulturerbe des Alpinismus seine Schattenseiten und dunkle Zeiten hinter sich oder steckt noch darin. Ein Überblick.

Begriff und Gegenbegriff

Seit dem Startschuss des Bergsteigens in den Alpen im 19. Jahrhundert zog es immer mehr Menschen auf die Gipfel des Gebirges. In der ersten Zeit waren das hauptsächlich lokale Führer, die mit Gästen einen einfachsten Weg auf den Gipfel suchten, der mit der damaligen "Ausrüstung" gangbar war. Diese Tätigkeit professionalisierte sich später. Viele der bekannten Alpenberge wurden von und mit britischen Gästen erstbestiegen, da sich zur damaligen Zeit die Schweiz als beliebtes Reiseziel der wohlhabenderen Briten herauskristallisierte. Daraus entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte eine Abhängigkeit der Bergregionen vom Bergtourismus. Was anfangs eine große Chance war, mutierte mit den Auswirkungen von Digitalisierung und Globalisierung zum Problem: ein Zuviel entstand. Hier zeigt sich bereits ein großer Widerspruch: viele Leute wollen die Freiheit der Landschaft genießen, was dazu führt, dass es weniger Freiheiten für alle gibt. Individualismus, der zu Massentourismus führt. 

Die Gegenseite ist nicht minder schwierig: Bergsport eignet sich hervorragend für Metaphern: wenn es uns gut geht, geht es bergauf, wenn es uns schlecht geht bergab. Die Seilschaft stellt einen krassen Gegenpol zum Einzelkämpfertum dar und stilisiert eine sehr starke Verbindung zwischen zwei Menschen, die extrem stark aufeinander angewiesen sind, aber dadurch auch große Taten vollbringen können. Diese Erzählung diente in der Vergangenheit häufig auch Interessen außerhalb der Bergsportblase: nationalen und nationalistischen Interessen. Im Folgenden möchte ich einige Punkte ausarbeiten, in denen das sonst neutrale Tun des Bergsteigens vereinnahmt wurden.

Kolonialistische Züge

Kolonialismus, das war doch im 19. und spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts, oder? Das fragt sich eventuell die ein oder andere Person, die die Überschrift des Absatzes erst gelesen hat. Ja, der Kolonialismus im großen Stil fand in eben genanntem Zeitraum statt. Das Bergsteigen entwickelte jedoch sein ganz eigenes Wesen: Die Entwicklung hin zum Erschließen der Wildnis führte dazu, dass wohlhabende Leute in entsprechende Regionen reisten und dort halfen, Infrastruktur aufzubauen. Also eine Reisebewegung aus den wohlhabenderen Regionen in ärmere Bergregionen. Während ich im letzten Absatz hauptsächlich auf die Erschließung der schweizer und französischen Alpen durch hauptsächlich Briten einging, hatten bei der Erschließung der Ostalpen mit den Dolomiten hauptsächlich von Österreichischen oder Deutschen die Finger im Spiel. Sichtbar ist das heute unter anderem an der Verteilung der Alpenvereinshütten im Alpenbogen: viele Sektionen des Deutschen Alpenvereins (DAV) führen Hütten in Österreich und Italien. In Regionen, in denen Bergkristalle vorkommen, ist das Sammeln sogar verboten, da das Land nicht selten den Sektionen gehört. Was die ursprünglichen Locals von der Erschließung hatten, zumindest neben kurzfristig gesicherten Jobs durch den Tourismus, ist da schon eine Frage. Kommt irgendwie bekannt vor, Besitzansprüche in fremden Regionen zu stellen, oder?
Nicht nur im Alpenraum hatten die deutschen Bergambitionen zu kolonialähnlichen Strukturen geführt, auch in Argentienen, vor allem in Patagonien. Die Hütten dort heißen zum Beispiel "Frey" (bekanntes Klettergebiet). Aber nicht nur der deutschsprachige Raum bemerkte, dass sich das Bergsteigen gut für nationale Interessen instrumentalisieren ließ. 

Wettbewerb

Vor allem das Wettrennen um die Erstbesteigung der 14 über 8000 Meter hohen Gipfel der Welt ließ in allerlei Ländern die Propagandamaschine anlaufen. Davor und währenddessen lockten auch die Erstbegehungen durch die imposantesten, unmöglichsten Wände und Grate in den Alpen nationales Interesse. In den 20er und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel waren die Nordwände von Grandes Jorasses (4208m, Mont-Blanc-Massiv), Eiger (3967m, Berner Alpen) und Matterhorn (4478m, Walliser Alpen) ein gefragtes Ziel. So gefragt sogar, dass die Erstbesteigung der Eiger Nordwand im Rahmen der Olympischen Spiele 1936 in München von Adolf Hitler mit einer Goldmedaille dotiert wurde. Es dauerte jedoch bis 1938, dass die Wand zum ersten Mal komplett durchgestiegen wurde (Genau genommen war schon 1932 Hans Lauper durch den linken, mehr nach Nordost zeigenden Wandteil gestiegen). Auch die Erstbesteigung des Nanga Parbat 1953 im Alleingang und ohne Flaschensauerstoff (jedoch mit Drogen) durch Hermann Buhl eine gefundene Sensation für das gespaltene Land. Der damalige Expeditionsleiter Karl Maria Herrligkoffer wusste den Wert des Gipfelsiegs zu schätzen, verstritt sich aber nach der Expedition mit den Mitgliedern und insbesondere Buhl.

Wo Wettbewerb, da ist jedoch auch Raum für Egoismus und Individualismus. Ein Denkmal der Überheblichkeit befindet sich in Südamerika, genauer gesagt in Süden Argentiniens, in Patagonien. Die Türme und Gipfel der Region galten schon seit Beginn als schwierigste Berge der Welt, so auch und insbesondere der Cerro Torre. Wie der Big Ben ragt er aus der Skyline, die sich im Hintergrund des Dörfchens El Chalten auftut. Bereits 1959 brachen Cesare Maestri, ein Italiener bekannt durch seine Kletterfähigkeit als die "Spinne", und Toni Egger, ein Tiroler auf. Maestri behauptete im Nachhinein, ihnen sei die Erstbesteigung des Torre über die Nordwand gelungen, wobei Toni Egger im Abstieg von einer Eislawine mitgerissen worden sei und die mitgebrachte Kamera das Abenteuer auch nicht überlebte, es somit keinerlei Beweise gab. Sollte1959 den beiden trotz der damalig für solch steilen Eiswände äußerst ungeeigneten Ausrüstung und entgegen der vielen Zweifel tatsächlich gelungen sein, so wäre definitiv zu sagen, dass die beiden ihrer Zeit um mehrere Jahrzehnte voraus waren. Aber es gibt eben viele Zweifel, denn selbst heute gab es bei mehreren Anläufen, die eventuelle Erstbegehung nachzuvollziehen, wenig bis keine Spuren auf der von Maestri damals beschriebenen Route. Bei einem Rückzug hätten ohne Weiteres einige Haken oder andere Ausrüstungsgegenstände zurückgelassen werden müssen. Maestri verteidigte sich und behauptete weiter, den Gipfel erreicht zu haben. 
Trotzdem fuhr er 1970, elf Jahre später, wieder nach Patagonien, um den Kritikern seine Fähigkeiten zu beweisen und die Kritik und Zweifel verstummen zu lassen. Mit im Gepäck: ein Dieselaggregat für eine Bohrmaschine. Mithilfe derer und 300 Bohrhaken nagelte sich Maestri durch die Südwestwand empor - also auf einer ganz anderen Seite des Berges, als der, an der ihm über ein Jahrzehnt eher die Begehung angeblich gelang. Hätte er sich bei Wahrhaftigkeit seiner Aussagen eine solche rabiate Aktion unterzogen? Oder wollte er tatsächlich einfach nur den Gipfel wieder erreichen, mit Dokumentationsmaterial? Das ist heute nicht mehr evaluierbar. Wegen widrigen Wetters musste er aber abblitzen und kam im November des Jahres ein weiteres Mal an den Berg. Am 2. Dezember 1970 erreichte er mit seinen Kameraden das Ende der Felswand. Den Gipfelschneepilz betraten sie nicht, da Maestri den Gipfel im dauerhaften Fels und nicht im mobilen Schnee-Eis sah. Den Kompressor ließen sie - sei es als Beweis oder um den Rückzug zu vereinfachen - eine Seillänge unterhalb des Ausstiegs hängen, wo er bis heute noch auffindbar ist. Daher ist seine Route heute als die "Kompressorroute" bekannt. 
Die erste weit und breit anerkannte Besteigung inklusive des Gipfels führten 1974 eine ebenso italienische Gruppe bestehend aus Casimiro Ferrari, Daniele Chiappa, Mario Conti und Pino Negrieine. Sie gelangten durch die Westwand und heute als "Ragni-Route" bekannte Linie zum Gipfel. Für die damalige Zeit waren die hier im Kombi- und Eisgelände erreichten Schwierigkeiten enorm, AI5+ M4+ MI6 (Mushroom Ice).
War Maestri 1959 wirklich auf dem Gipfel? Aus eigenen Beweggründen entschied er sich dann imerhin für eine (erneute) Besteigung, um die Kritiker seiner Taten oder Untaten verstummen zu lassen. Wenig nationales Interesse (aber auch), hauptsächlich individuelles.

Nationalsozialismus

Die Geschichte der Erstbegehung der Nordwand des Eiger steht fast schon sinnbildlich für die Vereinnahmung alpinistischer Taten für ideologische, politische Zwecke: Es waren zwei Seilschaften zur gleichen Zeit in die Wand eingestiegen, ein deutsches Team (Anderl Heckmair und Ludwig Vörg) und ein österreichisches (Heinrich Harrer und Fritz Kasparek). Kasparek udn Harrer waren mit alten beziehungsweise komplett ohne Steigeisen unterwegs und nachdem sich Vörg und Heckmair wegen Schlechtwetters bereits einmal zurüpckgezogen hatten udn dann wieder eingestiegen waren, schlossen sich die zwei Seilschaften zusammen. Nach mehreren Tagen mit schlechtem Wetter erreichten alle vier den Gipfel, die Wand war "bezwungen". Das wusste das NS-Regime sich zunutze zu machen, denn stand es nicht für die Überlegenheit der "deutschen Rasse", dass sie gemeinsam eine so gefährliche Wand durchstiegen hatten? Vörg war bereits vor dem Eiger in der NS-Ordensburg in Sonthofen, wo er auch Harrer eine Stelle vermittelte. Nach ihrem Erfolg wurde ein Buch über die Wand im Zentralverlag der NSDAP herausgegeben, Kasparek bekam von NS-Propagandaminister Himmler selbst die Einladung, in die SS einzutreten, welche er auch annahm. Den vier Erstbesteigern wurde daher auch vorgeworfen, die Wand für die Nationalsozialisten versucht und durchstiegen zu haben, was alle jedoch verneinten. Nichtsdestotrotz ist die Erstbesteigung der Eigernordwand unbestreitbar mit der Propagandamaschine der Nationalsozialisten verwoben.

Buch- und Filmempfehlungen

Cerro Torre - A snowballs chance in hell
Reinhold Messner - Torre: Schrei aus Stein. Malik, 2020.
Robert Macfarlane - Berge im Kopf- Naturunden, Berlin 2021.
Hermann Buhl - Achttausender drunter und drüber. Piper, München 2007.
Nordwand (2008)

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