Bipolar verstehen
Ich habe hier auf meinem Blog bereits ein paar Male auf meine Geschichte(-n) mit psychischer Gesundheit angespielt, bin aber noch nie wirklich konkret dabei geworden. Das möchte ich hiermit ändern. Indem ich die Erkenntnisse, welche ich über die letzten zwei Jahre und insbesondere bei meinem vorletzten, diesmal tatsächlich äußerst produktiven Klinikaufenthalt, gesammelt habe, schriftlich aufbereite.
Bereits im Herbst vor zwei Jahren wurde mir von meinem familiären und freundschaftlichen Umfeld rückgemeldet, ich hätte nicht nur ziemliche Tiefs in Form von Depressionen, sondern auch immer wieder Hochs mit wenig bis keinem Schlaf, sehr viel Aktivität in Form von Sport und Aufgedrehtheit sowie mehr Redebedarf. Inzwischen gibt's dafür bei mir auch ein Wort: Bipolar II.
Allgemeines
Bipolare (affektive) Störungen bezeichnen Stimmungsschwankungen zwischen zwei Extremen. Am besten lässt sich die Thematik mit einer imaginären Stimmungskurve (auf der y-Achse die Stimmung, auf der x-Achse die Zeit) erklären, welche vom Normalzustand (y=0) sowohl nach oben als auch nach unten ausschlägt, während bei unipolaren (reinen) Depressionen die Ausschläge der Stimmungskurve vom "Normalzustand" nur nach unten zeigen (natürlich ist das stark vereinfacht, bei jedem Menschen schwankt die Stimmung, nur eben nicht in solchen extremen Ausmaßen). Früher war die Bezeichnung "manisch-depressiv" für die bipolaren Störungen noch verbreiteter. Es gibt zwei Arten von Bipolaren Störungen, Bipolar I und Bipolar II. Die Bezeichnung "manisch-depressiv" passt wortwörtlich eigentlich nur zu Bipolar I, bei welcher Verlaufsform die Hochphasen tatsächlich manisch sind, also von der Realität losgelöst mit drastischen Folgen für Arbeitsumfeld, Familie und Freundschaften sowie das gesamte soziale Umfeld. Bipolar II bezeichnet die Art von Störung, wenn die Stimmung zwar nach oben ins Abnorme geht, aber Betroffene noch immer relativ in der Realität verankert sind und die Folgen für das Umfeld weniger drastisch sind (auch Hypomanie genannt).
Nicht selten wird eine Bipolar-II-Störung als rezidivierende depressive Störung (häufiger wiederkehrende depressive Episoden) fehldiagnostiziert, wenn bzw. weil die hypomanen Phasen nicht erkannt werden. Das klingt zwar schräg, aber selbst die Patient*innen merken kaum, wenn ihre Stimmung "zu gut" ist. Denn wenn's dir nicht schlecht geht, geht's dir gut. Daher ist meist eine Anamnese aus dem familiären Umfeld nötig, um eine Bipolar-II-Störung richtig zu identifizieren.
Außer der Aufteilung in Bipolar-I und Bipolar-II gibt es weitere Verlaufsformen:
- das sogenannte "Switching" bezeichnet einen übergangslosen Wechsel zwischen (Hypo-)Manie und Depression
- Rapid Cycling werden Krankheitsverläufe bezeichnet, die mehr als vier Stimmungsumschwüngen im Jahr
- Ultra Rapid Cycling werden Umschwünge innerhalb weniger Tage genannt
- Ultradian Rapid Cycling bezeichnet mehrere Umschwünge innerhalb eines Tages.
- Mischzustände oder dysphorische Manien werden Zustände genannt, in denen Symptome von sowohl (Hypo-)Manie und Depression zeitgleich vorhanden sind. Solche Phasen werden auch als gemischte Episode bezeichnet.
Sehr simple Darstellung eines möglichen Verlaufs. "100" deutet die normale Stimmungsschwankung eines psychisch gesunden Menschen an. |
Meine Erfahrungen
Datengrundlagen zur Sichtbarkeit
Hier wird schon klar, dass so eine Bipolar-II-Störung meist nur schwer fassbar ist, nicht nur für Außenstehende. So ging es auch mir, bis ich vor einiger Zeit auf die Idee kam, mir die Gesundheitsdaten anzusehen, welche meine Uhr sammelt. Besonders anhand zweier Verlaufskurven lässt sich die Bipolarität bzw. lassen sich die starken Schwankungen sichtbar machen:
1. Die durchschnittliche es wöchentliche Schlafdauer
meine durschnittliche wöchentliche Schlafdauer der vergangenen zwölf Monate |
Was fällt bei der Betrachtung auf? Die Kurve hat einige größere Schwankungen. Zumindest bis Januar. Was macht diese Grafik so aussagekräftig? Da es sich bei jedem einzelnen der Punkte um den Durchschnitt der geschlafenen Stunden pro Nacht in einer Woche handelt, sind bereits kleine Schwankungen aufgrund von Terminen oder ähnlichen Dingen, wie sie jeder Mensch kennt, bereits rausgenommen. Demnach habe ich z.B. im Juni 2022 zwei Wochen lang pro Tag etwas weniger als fünf Stunden geschlafen, im Oktober sogar eine Woche lang nur knapp drei Stunden (wobei in dieser WOche hatte ich meine Uhr nur zwei Tage an, wie wir bei der wöchentlichen Schrittmenge sehen werden). Die Ausschläge nach oben gehen z.B. im Dezember auf über zehn Stunden. Hier ist wichtig anzumerken, dass die Uhr nur den Nachtschlaf misst, also jeder Schlag am Tag (wie er in schweren depressiven Episoden häufig und lange vorkommt) ist in dieser Grafik nicht repräsentiert, die Ausschläge nach oben wären damit noch wesentlich deutlicher.
Dass ich die (Tendenz der) Schlafdauer auch als Frühwarnzeichen sehen kann, war mir zwar bereits klar, doch dass die Unterschiede und Schwankungen so extrem sind bzw. es waren, hätte ich mir nicht gedacht. Zumal ich weiß, dass meine durchschnittliche Schlafdauer früher eher so siebeneinhalb Stunden waren und ich danach ausgeschlafen war.
Ein weiterer Punkt, der aus dieser Grafik deutlich herauslesbar ist: seit Ende Dezember werde ich auf eine neue Medikation eingestellt, Quetiapin. Das hat eine deutliche Wirkung, die nicht nur in der Stabilisierung der Kurve bemerkbar ist: Etwa zwei bis drei Stunden nach der Einnahme am Abend zieht mich das Quetiapin förmlich in die Horizontale, es übermannt mich mit einer Müdigkeit, die ich bis dato nicht kannte; mir fallen die Augen zu und ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten, unabhängig vom Energielevel und der am Tag erlebten Anstrengung. Meine Ärztin in der Klinik beschrieb diese Müdigkeit, die ich schwer bzw. schlecht beschreiben kann, als sedierende Müdigkeit und ich glaube auch, das klingt vielleicht ganz passend. Morgens nach dem Aufstehen, selbst nach neun Stunden Schlaf, bin ich für zwei bis drei Stunden kognitiv noch etwas abwesend, mit einer schächeren Form der komischen, sedierenden Müdigkeit und zuklappenden Augen. Das fällt mir etwas schwer zu akzeptieren, denn bereits seit Grundschulalter bin ich selbst in den Ferien ohne Wecker um 06:30 Uhr aufgestanden und war direkt nach dem Aufwachen präsent. Aber das ist vermutlich der Preis, den ich für eine hoffentlich stabilere Stimmung zahlen muss.
Der Sinn und Zweck hinter den eben beschriebenen Wirkungen ist jedoch schnell erklärt: eine stabile Schlafdauer kann und soll stimmungsstabilisierend wirken und ich so weniger schnell in eine erneute depressive oder hypomanische Episode rutschen.
Da die Grafik allerdings "nur" wöchentlich aussagt, lässt sich eine Art des Switchings, wie ich sie auch kenne, allerdings nicht darstellen: Mehrere Phasen innerhalb eines Tages.
2. Die durchschnittlichen wöchentlichen Schritte
meine durchschnittlichen Schritte pro Woche der letzten 12 Monate. |
Wenden wir diese Grafik auf die obere Grafik mit der durchschnittlichen Schlafdauer an, lassen sich Muster erkennen: Geht die Schlafdauer zurück, ist die wöchentliche Schrittmenge höher als der Durchschnitt, geht die Schlafdauer nach oben, ist die wöchentliche Schrittmenge tendenziell niedriger als der Durchschnitt: eine klassische depressive Symptomatik, weniger Bewegung und mehr Isolation. Auch beim Betrachten dieser Grafik war ich doch überrascht, wie deutlich die Schwankungen sind.
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