Bergsport - Angewandte Naturphilosophie?
Ein kurzer Überblick
Berge regten Menschen schon seit jeher zum Nachdenken an: Sei es der Olymp, der nach den antiken griechischen Mythen ihre Götter beherbergen sollte, für namhafte Poetinnen und Schriftsteller über die Jahrhunderte hinweg die Alpen als Muse, oder der Himalaya als höchstaufragendste Erhebung der Erde, der kreative, philosophische und viele andere Gedanken hervorbrachte. Ein Zeitgenosse prägte die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Bergen im 20. Jahrhundert wie kein Anderer: Reinhold Messner. Die möglichen Themen sind vielzählig und wie fast alles in der Philosophie noch nicht komplett ausbuchstabiert. Ein kleiner Überblick.
Grundlagen
Aber was genau macht gerade Bergsport und den Aufenthalt in den Bergen zur gelebten Naturphilosophie? Eigentlich ganz einfach: Indem wir uns aus unseren inzwischen normalen Lebensräumen in weniger erschlossene Gebiete begeben, tun wir insbesondere eines dauerhaft und intensiv: Wir begeben uns in Auseinandersetzung mit der Natur und mit unserer Umgebung. Dies geschieht auf vielfältige Weise:
Wir nehmen unsere Umwelt wahr und bewerten sie (selbst wenn wir nicht werten wollen, denn wir nehmen immer nur Ausschnitte wahr) - setzen uns also in uns selbst damit auseinander.
In der Auseinandersetzung mit der Natur setzen wir uns auch mit uns selbst auseinander.
Wir verhalten uns zu unserer Umwelt - aktiv und passiv.
All dies geschieht ob wir wollen oder nicht - eine agency, die wir über unsere komplette Lebensdauer haben. Es ist schlicht unmöglich, nicht zu agieren.
Im Folgenden wird eine Auswahl an Möglichkeiten vorgestellt, in denen wir unseren Bezug zur Natur aushandeln.
Selbstwert
Allein dadurch, dass wir in die Natur gehen, uns also von unseren Lebensräumen in Städten oder Dörfern (oder auf dem Land) entfernen, machen wir bereits einen Anspruch auf eben diese Gebiete geltend. Wir wollen uns auch dort bewegen, die Natur wahrnehmen. In großem Stil führt diese Prämisse zum Bergtourismus, wie er auf Zugspitze, an den Drei Zinnen oder am Everest führt: Warum auch immer (weil der Everest dort steht?), wir müssen in diese Gebiete.
Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die Fläche wahrer Wildnis (strukturfreie Landschaft) immer kleiner wird, denn Wildnis ist per Definition dort, wo wir uns nicht einrichten. Sei es über Wege, Hütten, Klettersteige oder Kletterrouten. Dauerhafte Infrastruktur führt zu Wildnisabnahme.
Wir Menschen nehmen uns also das Recht, über Landschaft zu verfügen, die wir eigentlich nicht benötigen. Diese Entwicklung wurde im Bergsport insbesondere mit dem flächendeckenden Einsatz von Bohrhaken intensiviert und vorangetrieben. Vor dem Aufkommen war es uns nur möglich an Orte zu kommen, die über natürliche Begebenheiten und mit den “sanften” verfügbaren Möglichkeiten erreichbar waren. Abweisende Wände konnten damit zwar auch bereits beklettert werden, aber wurden durch die nicht willkürlich einsetzbaren Normalhaken und Keile eben anspruchsvoll, ein Vordringen in solch wildes Gelände ging immer einher mit einer Steigerung des Risikos, der Ernsthaftigkeit.
Mit dem Aufkommen des Bohrhakens konnten Wandfluchten, die über keinerlei Möglichkeiten für Fixpunktschaffung mit den herkömmlichen Mitteln verfügten, plötzlich erreicht werden. Und das mit einem sehr geringen Risiko. Durch eine Veränderung unserer Umwelt konnten wir sie zum Spaß (oder auch für Prestige oder nationale Interessen) uns zugänglich machen, ohne Risiken, die zuvor damit einhergegangen wären.
Veränderung von Natur durch den Menschen gibt es seit dem Menschen - Kultur ist das, was wir Menschen schufen und schaffen. Bis zu einem gewissen Punkt fanden diese Veränderungen nur statt, um unser Leben zu ermöglichen (z. B. Durch Feldarbeit) oder uns zu organisieren, also für unsere Gesellschaft (Straßen, Wege, Infrastruktur allgemein). Ab diesem Punkt jedoch fand diese Veränderung auch zu nicht dringend nötigen Zwecken statt; beim Bohrhaken eben dem Spaß oder Prestige. Wir machen uns alles untertan, was es nur gibt.
Ist das egoistisch? Wollen wir Menschen uns zum Gott machen? Diese Fragen betrachten wir durch eine andere Perspektive.
Möglichkeit
Was verbinden viele Kulturen mit Gott oder Göttern? Da gibt es zum Beispiel Erzählungen von Wundern, von unmöglichen Dingen. Aber wodurch wird in unserer Realität bestimmt, was möglich ist und was nicht? In erster Linie wird das durch die Art und Weise, wie die Welt existiert, mit all ihren Gesetzmäßigkeiten, Strukturen und all ihren Eigenschaften.
Nun war im Bergsport schon seit Beginn ein Reiz, (zur jeweiligen Zeit) unmöglich aussehende, bzw. unmöglich bewertete Gipfel und Wände zu beklettern. Das Matterhorn als prominentes (in mehrfacher Hinsicht) Beispiel wurde bereits Anfang der 1930er über die Nordwand bestiegen, 1200m steiles komplexes Gelände. Die berühmt-berüchtigte Nordwand des Eiger galt lange als letztes Problem der Alpen, viele Menschen verunglückten bis zur Erstbegehung 1938. Aber wieder war eine “unmögliche” Wand bezwungen.
Eigentlich sehe ich persönlich Berge nicht als Kampf an, kann mit den Kriegsbegriffen wie belagern, bezwingen, mit dem Gelände kämpfen, Gipfelsieg nicht viel anfangen. Allerdings wurden diese Begriffe inbesondere in der Zeit der Weltkriege genutzt, um die Bedeutung der Unternehmungen zu kommunizieren. Nicht selten war nationalistische Propaganda auch ein Nutznieser der Besteigungen. Diese kämpferischen Begrifflichkeiten, suggerierten auch, der Mensch hätte sich gegen etwas Unbezwingbares durchgesetzt. Mindestens seit David gegen Goliath ein beliebtes Narrativ, um zu zeigen: Das Unmögliche ist uns möglich, wir haben berechtigten Anspruch auf die Rolle als dominante Spezies und sind vielleicht sogar stärker als jede andere normale Spezies sein kann.
Als in den 1970ern Peter Habeler und Reinhold Messner planten, den Everest ohne Flaschensauerstoff zu besteigen, kamen von sämtlichen Medizinern und Laien die Aussage, das sei nicht möglich. Wie wir heute wissen - durch die Aktion von 1978 - ist es möglich. Möglich gemacht hatten das aber die Akteure selbst: Sie trainierten hart, um ihren Körper auch die harschen Bedingungen auf über 8000m aushalten zu lassen.
Der Bohrhaken war auch aus der Perspektive, die wir hier erörterten, ein Novum: Mit ihnen können komplett blanke, strukturlose und steile Bereiche zugänglich gemacht werden. Durch ihn explodierte der Bereich des Möglichen und verdrängte den Bereich des Unmöglichen fast komplett. Nicht ohne Grund bezeichnete Reinhold Messner den Bohrhaken in einem Essay bekannterweise als Mord am Unmöglichen. Die Frage bleibt: Spielen wir Gott?
Wesen des Menschen
Eine letzte Perspektive, die ich beleuchten möchte, haben wir in den vorangegangenen Abschnitten bereits zu Teilen behandelt: Was sagt all dieses Handeln über uns aus, über unsere Natur, unser Wesen? Wir scheinen unsere Umwelt so zu sehen, dass sie für uns verfügbar sein muss, jederzeit und allerrorts. Wenn dem nicht bereits so ist, dann verändern wir sie, schaffen Infrastruktur. Wir fordern von unserer Umwelt, dass sie sich uns untertan machen muss, andernfalls sorgen wir selbst dafür. Wir machen Unmögliches möglich, nicht durch Anpassung an unsere Umwelt wie andere Spezies, sondern wir modifizieren sie im großen Stil, damit sie für uns passt. Wir machen das alles nur für uns selbst. Was sagt das über uns aus, was hat das zur Folge?
Fazit
In der Umweltforschung gibt es bereits einen Namen für das Zeitalter, in dem unser Einfluss auf die Welt deutlich nachweisbar ist: Das Anthropozän wurde ursprünglich durch die Untersuchung der Kohlenstoffablagerung im Sediment bestimmt. Da diese seit Beginn der Industrialisierung durch unsere Emissionen drastisch anstiegen, ist der Beginn auf den Beginn der Industrialisierung datiert. Seit so klar nachzuweisen ist, inwiefern unser Handeln sich auf unsere Umwelt auswirkt, rückte die Frage nach unserer Verantwortung für unsere Umwelt und auch Mitmenschen in den Vordergrund. Ist das so nachhaltig, schaden wir mit unseren radikalen Eingriffen und Einflüssen nicht sogar unseren eigenen folgenden Generationen? Ganz zu schweigen von unserer Flora und Fauna?
Diese Fragen ethischer Art folgen direkt auf die Fragen, die wir ursprünglich zur Naturphilosophie stellten. Denn genau wie wir uns nie nicht zur Welt verhalten können, können wir nicht unpolitisch sein. Jede Aktion oder nicht-Aktion hat Auswirkungen auf unsere Umwelt und daher eine politische Agenda. Bewusst oder unbewusst. Vielleicht sollten wir uns also in Zukunft wirklich hinterfragen, wofür wir Verantwortung übernehmen sollten?!
Disclaimer:
Ich spreche mich nicht gegen Bohrhaken im Allgemeinen aus, sie haben inzwischen definitiv ihre Berechtigung, um Diversität im Bergsport und bei den partizipierenden Menschen sicherzustellen. Ihr Einsatz im Sportklettern und Plaisirklettern ermöglicht einer größeren Bandbreite von Menschen, Natur und "wildes" Ambiente erleben zu können. Hauptsächlich der Einsatz im Alpinismus an der im englischen so schönen "cutting edge" bleibt kritisch zu hinterfragen.
Sehr interessant. Danke!
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