Berg"sport"? Die Frage nach dem "Was" und dem "Warum"
Begrifflichkeiten
"nach bestimmten Regeln (im Wettkampf) aus Freude an Bewegung und Spiel, zur körperlichen Ertüchtigung ausgeübte körperliche Betätigung"
bezeichnet, in der zweiten als "Liebhaberei, Betätigung zum Vergnügen, zum Zeitvertreib, Hobby" [duden.de].
Wird der Sinn der ersten Definition auf den Bergsport angewandt, könnte Bergsport als eine geregelte Art der körperlichen Betätigung in den Bergen verstanden werden, welche aus Freude an der Tätigkeit verrichtet wird. Mit diesem Verständnis stellen sich jedoch direkt mindestens zwei weitere Fragen: ist Bergsport überhaupt geregelt und wenn ja, in welcher Weise?
Historische Entwicklung
Um weiter mit der Definition zu arbeiten, könnte hier argumentiert werden, dass Bergsport im Wettkampf geregelt ist. Hier ist jedoch anzumerken, dass es nicht den Bergsport gibt, sondern der Begriff viel mehr eine ganze Reihe an unterschiedlichen und sehr spezifischen Sportarten beschreibt, die sich alle aus dem klassischen Bergsteigen entwickelt haben. Diese Entwicklung, Spezifizierung und Ausdifferenzierung ist kein abgeschlossener Prozess, er findet weiterhin statt:
Die Anfänge des klassischen Bergsteigens werden zumeist im Jahr 1336 verortet, als der Mont Ventoux zum ersten (dokumentierten?) Mal bestiegen wurde. Anfänglich ging es simpel darum, einen Berg zu besteigen, was besonders im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im nationalen Interesse betrieben wurde. Irgendwann dann fing ein regelrechter Bergboom an, vor allem in die Alpen kamen reiche Leute aus dem Ausland, viele aus England, und ließen sich durch Einheimische auf bzw. in die Berge führen, daher ist Bergsteigen auch als "Alpinismus" bezeichnet. Alpinhistoriker (und selbst ehemaliger Bergsteiger) Reinhold Messner teilt das Bergsteigen/Alpinismus daher in verschiedene Ären ein: die Zeit des traditionellen Alpinismus mit Neugier als einer der Hauptbeweggründe; die Anfangszeit des Freikletterns im frühen 20. Jahrhundert; die Zeit des heroischen Alpinismus zwischen den beiden Weltkriegen; die Zeit der Direttisimae in den 1950er- und 1960er-Jahren sowie das Zeitalter des siebten Grades, welches den Weg ebnete für das Sportklettern. Die verschiedenen Spielarten entwickelten sich jeweils aus den verschiedenen Ären.
Aus dem Gesamtanspruch des Bergsteigens differenzierten sich so zuerst das Felsklettern mit dem Sportklettern und das Klettern im kombinierten Gelände, das später das technische Steileisklettern hervorbrachte. Da sich Eis immer unterschiedlich bildet, waren auch immer wieder Felsabschnitte mit dem Eiskletterausrüstung zu klettern, wodurch sich dann irgendwann aus dem Eisklettern das moderne Mixed-Klettern entwickelte.
Um ganzjährig für diese spezifischen Sportarten trainieren zu können, kam dann in den 2000ern das Drytooling, bei dem mit Eisausrüstung an "trockenem" Fels (ohne Eis) geklettert wird.
Schwierig einzuordnen ist das technische Klettern, der englische Begriff dafür, "aid climbing", macht es etwas deutlicher, worum es geht: mit immer fortschrittlicherem Equipment können Fels- oder Eispassagen geklettert werden, ohne sie aus eigener Kraft zu klettern, sondern indem temporäre Sicherungspunkte angebracht werden, an denen mithilfe von Strickleitern ein Höherkommen möglich ist. Diese Spielart ist, im Gegensatz zu den anderen modernen und ausdifferenzierten Sportarten,
Die "Versportlichung" der Angelegenheit
Aus dem Felsklettern entwickelte sich ca. ab den 1970ern das moderne Sportklettern, bei dem es ab Mitte/Ende der 1970er darum geht, möglichst schwierige Linien im Fels zu klettern. Um hierfür zu trainieren, differenzierte sich das Bouldern heraus: Klettern an kleinen Felsblöcken in Absprunghöhe ohne Seil. Sowohl Sportklettern und Bouldern fanden in den 1990ern den Weg ins Innere, Kletterhallen und später Boulderhallen sprossen aus dem Boden. In diesen Hallen wird an farbigen Plastikgriffen geklettert, die die Linie (und somit auch künstlich die Schwierigkeit) vorgeben. Mit diesem Hallenklettern kam dann irgendwann das Speedklettern: eine genormte, 12 oder 15 Meter lange Kletterroute, die bis ins kleinste Detail trainiert werden kann und so heute in unter sechs Sekunden geklettert wird.
Wie zu sehen, gibt es viele Sportarten, die mehr oder minder nah mit dem Bergsteigen verwandt sind. Wettkämpfe gibt es heutzutage vor allem im Sportklettern und Bouldern, das bei den Olympischen Spielen 2020 (2021) in Tokio erstmals auch olympisch praktiziert wurde. Dieses findet an Plastik statt, also indoor. Bouldern, Lead und Speed gehörten zum Konzept, welches als "Olympic Combined" bezeichnet wurde: alle Athlet*innen mussten in allen drei Sportarten antreten. Aber auch unabhängig voneinander existieren Weltmeisterschaften der drei Sportarten.
Auch das Eisklettern hat eine Weltmeisterschaft, die allerdings meist nur sehr wenig wirkliches Eis beinhaltet und viel an Plastik- und Metallgriffen stattfindet und durch den äußerst athletischen Stil auch eher mehr mit Drytooling und modernem Mixed-Klettern zu tun hat als mit Steileisklettern. Zudem gibt es noch eine Speedwertung, die tatsächlich an einem senkrechten Turm aus Eis ausgetragen wird.
Das Skibergsteigen hat ebenso eigene Wettkämpfe in Form von Rennen.
In der Sowjetunion, in der Bergsteigen national sehr viel stärker gefördert wurde als in anderen Ländern, gab es sogar Wettkämpfe im Bergsteigen und Klettern und eine Rangliste, was dazu führte, dass die Gegend viele starke Bergsteiger*innen hervorbrachte.
Innerhalb dieser unterschiedlichen Wettkämpfe gibt es ein klar definiertes Reglement, wie es die erste Definition von "Sport" auch beschreibt, aber nicht jede*r betreibt Bergsport professionell bzw. als Wettkampfsport, daher stellt sich direkt die Frage: gibt es außerhalb des Wettkampfs festgelegte Regeln, denen die verschiedenen Disziplinen folgen?
Stil und Ethik
Innerhalb der vielen unterschiedlichen Disziplinen gibt es verschiedene Begehungsstile von Routen, die anerkannt sind. Beim Bouldern gibt es den "Flash", wenn ein Boulderproblem im ersten Versuch geschafft wird. Im Sportklettern ist es ein klein wenig vielseitiger: ein "Onsight" bezeichnet den sturz- und pausefreien Durchstieg einer Route, ohne davor Infos über sie zu haben. Ein "Flash" ist ebenso eine sturz- und pausefreie Durchsteigung im ersten Versuch, allerdings mit Infos über Bewegungen, Ruhepositionen und ähnlichem von einer anderen Person. Ein "Rotpunkt" ist ein sturz- und pausefreier Durchstieg einer Route allgemein, egal wie viele Versuche es davor gab. Nun lässt sich allerdings nicht behaupten, dass dies festgelegte Regeln sind.
Auch in anderen Spielarten des Bergsports gibt es rege Diskussionen um den Stil einer Begehung. So haben sich in den letzten Jahrzehnten im Bergsteigen viele unterschiedliche Begehungsstile und Namen etabliert, wie z.B. "by fair means". Das Konzept hinter diesem Namen: nur auf eigene Kraft und mit eigenen, fairen Mitteln am gesetzten Ziel ankommen, nicht auf bereits bestehende Infrastruktur zurückzugreifen. Allerdings kann auch hier wieder breit ausgelegt werden: Wo ist die Grenze, ab wo zählt dieser Stil? Bildlich gesprochen: ist eine Begehung immer noch by fair means, wenn mit dem Flugzeug in ein Land geflogen wird (statt mit einem Segelboot, auf dem Rad o.ä. dorthin zu gelangen), wenn ab der Ankunft dort zum Berg gepaddelt wurde, alles Material alleine ohne Träger*innen geschleppt wurde?
Auch bei Geschwindigkeitsrekorden stellen sich solche Fragen: so hat der derzeitige Speed-Rekord-Inhaber des Stüdlgrats auf den Großglockner, Philipp Reiter, bei seinem Versuch die Zeiten, in denen er Schuhe und Steigeisen wechselte, nicht mitgestoppt. Zählt also die Geschwindigkeit und Effizienz des Kleidungswechsels nicht mit, obwohl sonst alles mitgestoppt wird und im Aufstieg jede Passage einstudiert wird, um auf einem kleinen Stück möglichst viel Zeit gutzumachen?
Breitensport?
Bisher war außerdem fast ausschließlich die Rede von Stilen, die sich Profisportlerinnen und Profisportler auferlegen, aber nicht die Freizeit- und Breitensportler*innen, die die Sportarten aus anderen Gründen ausüben. Hier lohnt es sich nun, den Blick auf die zweite eigenständige Definition aus dem Duden zu lenken: "Liebhaberei, Betätigung zum Vergnügen, zum Zeitvertreib, Hobby". Diese Definition beschreibt ein wesentlich lockereres Verständnis von Sport, im Gegensatz zur ersten komplett ohne Leistungsanspruch. Ein Verständnis von Sport, welches wesentlich mehr Leute einschließt, die Sport in ihrer Freizeit und als Hobby betätigen und nicht unbedingt auf Verbesserung und Fortschritt dabei aus sind.
Und nicht nur das: auch der sonst schwer zu fassende Profibereich außerhalb der Wettkämpfe ist in dieser Definition besser aufgehoben: Eine Ines Papert oder ein Robert Jasper sind nicht immer auf Superlative aus, sie suchen sich Linien an Bergen, in Wänden oder an Graten und Kanten aus, die eventuell noch nie zuvor irgendein Mensch beklettert hat und gehen ihr Ziel in einem Stil an, den sie sich selbst auferlegen, ohne ihn zwangsweise von anderen Leuten zu fordern. Schlichtweg: Bergsport außerhalb des Wettkampfes entbehrt jeglicher fester Regeln: Ob eine Felstour erstbegangen wird mit Bohrhaken in 1,5m-Abständen oder nur mit natürlichen Sicherungsmethoden mit so wenig Spuren wie möglich, ob eine Expedition mit äußerst hohem Materialaufwand eine Wand technisch erstbegeht oder ob eine im schnellen Alpinstil mit wenig Equipment und in freier Kletterei begangen wird, keine der beiden ist per se besser. In Zeiten, in denen wir Menschen uns mehr mit unserem Umgang mit der Natur beschäftigen, haben bestimmte Begehungsstile einen besseren oder schlechteren Ruf, welchen sie allerdings erst im Nachhinein bekommen.
Mit diesen Ansichten ist es offensichtlich schwierig, das kommerzielle Bergsteigen, welches insbesondere an den 14 höchsten Gipfeln der Welt auf über 8000m, aber auch an den sogenannten "Seven Summits" (den jeweils höchsten Gipfeln jedes Kontinents) mitsamt klimatisch höchst unproduktiven Helikopterflügen von Basislager ins Camp 2 stattfindet, zu verurteilen. Um zu verstehen, warum manche Menschen dies tun und entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen, müssen die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der unterschiedlichen Menschen unter die Lupe genommen werden. Verzicht im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils ist heutzutage in unserer westlichen Hemisphäre in Städten eine Art Luxusangelegenheit: wir können nur verzichten und auf Alternativen setzen, die erst häufig noch recht jung sind und daher recht teuer sind. Andere Länder sind erst beim Aufbau von Zivilisationen, wie wir sie vor 20 bis 30 Jahren kannten. Gerade die welthöchsten Berge liegen in ärmeren bis sehr armen Regionen, die inzwischen durch diesen Tourismus eine Wertschöpfungskette etablieren konnten und so humanitäre Fortschritte machen können. Die Perspektiven sind äußerst unterschiedlich. Wie bereits früher erwähnt, kann ein Stil nicht von einer anderen Person gefordert werden. Ob es passieren wird, dass stilistische Ansprüche beim kommerziellen Bergsteigen an den hohen Bergen der Welt gestellt werden und wenn ja, wie lange das dann dauern wird, wird sich zeigen.
Warum?
Womit wir beim Thema Freiheit und Eigenverantwortung wären: Bergsport und das Klettern jeglicher Art hatte seit Beginn an eine große Dimension der Eigenverantwortung und der Freiheit: Leute stiegen nicht auf Gipfel, weil sie es mussten, sondern weil sie es wollten und/oder konnten (Nicht umsonst ist Edmund Hillary's Antwort auf die Frage, warum er Berge besteigt - "Weil sie da sind" - so bekannt).
Gefahren mussten und müssen erkannt und Risiken evaluiert werden. Bis das Sportklettern so organisiert wurde, wie es heutzutage ist, vergingen mehr als 30 Jahre: von den Anfängen bis hin zu flächendeckenden Kletterhallen und damit auch ausgebildeten Trainer*innen, die sicherheitsrelevante Themen weitergeben dürfen (und währenddessen versichert sind). Davor lernte mensch von Bekannten und hatte keine Garantie für eine hochwertige Ausbildung. Eigenverantwortung war hier noch weitaus wichtiger, als es heute immer noch ist.
Und gerade diese zwei Werte, Freiheit und Eigenverantwortung, sind zwei wichtige Argumente gegen Bergsport als 'klassischen' Sport: es gibt keine endgültig "richtige" Art der Herangehensweise.
Zudem sind sie Faktoren dafür, warum viele Leute Bergsport betreiben: sich frei Ziele jeglicher Art auszusuchen und diese dann zu erreichen, ist nun mal sehr zufriedenstellend. Vielfalt gibt es nicht nur in den möglichen Zielen, sondern auch an Herangehensweisen: der Fels (oder das Plastik) gibt vor, aber unterschiedliche Körpergrößen, Spannweiten, Körperschwerpunkte verlangen vielfältige Lösungsansätze, die individuell sind.
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