Gran Paradiso (4061m) Nordwestwand

Eine Eiswand für die Ewigkeit?!

Es gibt so Sachen, die dauern ewig, bis mensch sie überhaupt fassen, respektive darüber angemessen reflektieren kann. Diese hier gehört zu eben jener Sorte.

Da sich der für dieses Wochenende ursprünglich geplante Kollege den Finger verletzt hat und eine Anfahrt ins Aostatal (zum guten Wetter) für ihn überhaupt nicht lohnen würde, wurde noch kurz Nik angefragt. Als einer meiner engsten Freunde wundert es nicht nur ein wenig, dass wir es in drei Jahren (etlichen Planungsversuchen zum Trotz) noch nie zusammen in die Alpen geschafft haben.

Aber bei gleichem Arbeitgeber sind die Voraussetzungen für so etwas natürlich nicht wirklich gut. Wenn der Eine arbeitet, hat der Andere frei und andersrum. Also hat es nie auch nur ansatzweise hingehauen für irgendeine mehrtägige Unternehmung, außer für schöne eintägige Skitouren zuhause im Schwarzwald (auf denen er ein echt guter Skilehrer für mich war, sofern mensch auf Skitouren Skifahren lernt...). Also am Donnerstagmittag in Erfahrung gebracht, ob Nik ab Freitag Bock (der war eigentlich gesichert, da er ein paar Tage zuvor nach meiner Einschätzung für eine andere Eiswand fragte) und vor allem, Zeit hätte. Und wie durch ein Wunder war die Antwort auf zweiteres: ---------- Jaaaaaaain. Schicht am Sonntagmorgen ab ca. 8:30 Uhr. Aber da lässt sich was drumherum basteln, also fix Essens- und Zeitplan besprochen und die Abfahrt für Freitagmittag um 12 Uhr in Freiburg festgelegt. Kurz bei der Hütte nach den Bedingungen gefragt, die Wand würde jeden Tag mehrmals angegangen werden. Ich wundere mich ein wenig, da ich das für recht unwahrscheinlich halte. 
Mit Mate für die Rückfahrt im Gepäck und dem Wissen, dass es vermutlich was richtig großes wird, geht es also Freitagmittag um 12 Uhr los gen Aostatal. 

Unser Ziel ist die Nordwestwand des Gran Paradiso. Gran ist er in der Tat mit seinen 4061m, und schön ist es vor Ort auch. Mit bis zu 55° Neigung und 600m Höhenunterschied ist die Wand mit D- bewertet. Im Führer wird sie als eine der wenigen (kompletten) Eiswände (bzw. Firnwände, aber ja, lest selbst) in den Alpen, die sich bis heute erhalten haben, beschrieben. Dass nach dem Hitzesommer dieses Jahr aber vermutlich nicht mehr jeder Stein so liegt, wie er das zum Redaktionsschluss beim Rother Bergverlag tat, bin ich gespannt, wie sich die Wand so schlägt. Eine der vielen tollen (aber auch eine der erschreckenden) Sachen am Bergsport: der Klimawandel mitsamt seinen Folgen kann hier gut beobachtet und verglichen werden. Ich war bereits 2021 vor Ort (zumindest am Parkplatz), allerdings hat mir mein Knie damals bereits nach 300hm im Zustieg zur Hütte den Dienst verweigert. So sind wir umgekehrt, ohne den Berg mitsamt Wand überhaupt gesehen zu haben. Dadurch habe ich leider keinen Vergleich, was die Sache definitiv nochmals informativer und spannender gemacht hätte.
Mit so gut wie möglich (oder auch nicht, doch dazu später mehr) reduziertem Gepäck (alles was mensch für die Unternehmung braucht, muss mit in die Wand genommen werden, um komplett über den "angenehm" leichten Normalweg über eine andere Hütte absteigen zu können. So muss das stark zerklüftete Gletscherbecken unterhalb der Wand nicht ein zweites Mal passiert werden) und einigem Gehirnjogging, was denn jetzt wo in den Rucksack sollte (und passt?), fahren wir dann am Freitag um 12 Uhr.

Mit guten Podcasts, Musik und Unterhaltungen gehen die fünfeinhalb Stunden Hinfahrt auch schnell rum, so landen wir kurz vor 18 Uhr am Parkplatz.
Der Hüttenzustieg ist am Schild mit 2h 45min angegeben, aber wir sind (über-?)motiviert und starten mit gutem Tempo gen Hütte und Berg. Bald auch zeigt er sich in seiner vollen Pracht und wir sind etwas eingeschüchtert, die Wand sieht sehr steil aus, zumindest aus der Ferne.

Gran Paradiso und seine Nordwestwand

Nach knapp unter zwei Stunden sind wir am Rifugio Federico Chabod, einer urigen Hütte und einem der zwei Ausgangspunkte für den Gran Paradiso. Es ist Ende der Saison, wir setzen uns auf die letzten zwei Plätze im Gastraum und trinken Tee bzw. Schokolade. Kurz bevor wir uns aufmachen wollen, fragt Nik noch den Hüttenwirt nach den Verhältnissen in der Nordwestwand. Der reagiert mit "Northwest face? You're gonna die!" Von dieser unsachlichen Einschätzung allerdings lassen wir uns nicht beirren, denn die Wirtin bestätigt unsere Vermutungen, dass die Hauptschwierigkeiten vermutlich am Weg zur Wand zu finden seien. Der Bergschrund wäre vor einiger Zeit eingebrochen und der Weg darüber daher nicht bekannt. Zudem wäre seit zwei Monaten kein Mensch mehr in die Wand eingestiegen. Ich wundere mich nur kurz, bis ich verstehe, dass die Dame am Telefon vermutlich "Normalweg" statt "Nordwestwand" verstand, als sie darauf mit "everyday many people do it" antwortete. Und muss schmunzeln. 

Am Biwak dann: Ich packe meinen Spirituskocher aus, als Nik mich mit seinem Gaskocher in der Hand anschaut und wir uns beide verdammt sicher sind, unmissverständlich mit dem Mitnehmen des Kochers beauftragt worden zu sein. Also hab' ich meinen Spirituskocher umsonst mitgenommen, aber: nicht weiter schlimm, denn Nik hat auch die Kokosmilch mit hochgeschleppt, die ich für's Essen am Sonntag (wieder daheim) brauchte und nicht mehr einkaufen konnte. Amüsiert über die Verwirrung in der sonst eigentlich effizienten und guten Planung legen wir uns schlafen.
Um drei Uhr dann kitzelt es ein klein wenig im Gesicht, vermutlich sind wir in einer Wolke. Als das Kitzeln sich dann in Pieksen umwandelt, mache ich die Augen auf und sehe: es schneit. Unangekündigt.

auch Italien, auch September (wie in Finale), aber: Schnee

Wir bekommen gerade noch so genug Netz für ein Update des Wetters, laut dem es heute Nacht ein klein wenig schneien soll und dann nochmal von 6:30 bis 9:30 Uhr. Wie geplant gehen wir um vier Uhr los. 
Um 6:30 Uhr dann, wie angekündigt, gibt es wieder schlechte bis keine Sicht auf dem Gletscher und eine Art kleiner Schneesturm bricht aus. An zwei Blöcken finden wir Unterschlupf und harren aus, bis es aufklart. Und wie es das tut. Es ist bereits 9:30 Uhr und ich bin stark am Überlegen, ob wir abbrechen sollen, weil der Zeitplan komplett hinüber ist. Aber wir haben nur wenig Weg bis zur Wand übrig und der sieht auch gut machbar aus. Da ab hier bereits an ein oder zwei Spalten ein klein wenig geklettert werden darf, seilen wir uns an. 

steile Eiskletterei an einer Spalte

So stehen wir nach ein paar Spalten bald unter der Wand, mit guter Sicht auf den Bergschrund. Das Gelände ist wild, zerklüftet, rings um uns hat es einige große Seracs, alle in sicherer Entfernung.

hinter Nik ein eindrucksvoller Serac

Blick auf die Wand, der eingestürzt Teil des Bergschrunds (Bildmitte) gut zu erkennen

Schnell findet sich eine Möglichkeit, den Schrund zu überwinden, so geht es für uns über eine Eisbrücke mit Schneebelag und anschließend eine 15m-Steilstufe mit bis zu 75° am Bergschrund nach oben. Ab hier geht's dann los in der Wand. Soll heißen, Eis in allen Variationen, zumeist aber: blank. Und Blankeis macht bis 30° und ab 75° Spaß. Selbst mit meinem unterdurchschnittlichen mathematischen Verständnis (okay, ich übertreibe. Formale Logik taugt.) lässt sich bemerken: in keiner der beiden Mengen sind die 55° enthalten. Zu steil, um "nur" zu stehen und zu flach, um wirklich richtig eiszuklettern, stellt die Kletterei einen einzigen Test der Eisklettermuskulatur (Aussprache: "Waden") dar. Frontpointen bis zum Gehtnichtmehr. 
Direkt an die erste Seillänge hänge ich per Microtraxion eine zweite und per Tibloc eine dritte, um gut Strecke zu machen und nach links und damit aus der eventuellen Schussbahn der über uns thronenden (drohenden?) Felsen zu kommen. Nik folgt in seiner ersten Eistour (dafür hat er mehr "klassische" Hochtouren auf dem Konto als ich) und merkt, dass hier die Waden mehr auf Hochtouren laufen als beim Laufen auf normalen Hochtouren.

der Bergschrund und der Start unserer ersten Seillänge bzw. ersten Blocks


Nik im Nachstieg im unteren Drittel der Wand. Unsere Linkstendenz gut erkennbar

so steil wie im Zustieg wirken die 55° der Wand aus der Nähe nichtmehr. Obendrüber die Felstürme, aus deren eventuellen Schussbahn ich kommen möchte

In der Wand dann machen wir dank langer Blocks am laufenden Seil gut Strecke. Aufgrund unseres vereisten Trinkschlauchs (ich habe nur die Trinkblase mit in den Schlafsack genommen, nicht den Schlauch... stupid me) hatten wir beide ab kurz vor der Wand nur noch eine unvereiste 0,7l-Flasche. Die rauszuholen wäre allerdings jedes Mal eine umständliche und (allem voran) zeitaufwändige Aktion, daher ziehen wir bis zum Gipfel durch. Nik führt zwischendurch auch seine erste Eislänge, bzw. derer gleich zwei in einem Block. Die Erschöpfung und Höhe merkt er und muss am Stand regenerieren. Ich hänge daraufhin einen letzten Block mit vier Seillängen an, die er sich durchkämpft. So landen wir ein paar Meter unter dem Grat. 
Da ich sehe, dass der Grat weiter unten überwechtet ist, bleibe ich ein paar Meter unterhalb der Firnschneide. Wir diskutieren kurz, ob bzw. wie wir weitersichern wollen und entscheiden uns fürs Sichern, ich fange die nächste Seillänge an. Durch abwechslungsreiche Schneebedinungen (hier hat es Pulver, Trittfirn, Storypor und Eis auf engstem Raum) geht es für uns Richtung Gipfel. Dann flacht der Grat ab, ich sehe, dass er jetzt nicht mehr verwechtet ist. Das trifft sich gut, denn die 50m Seil sind aus, wie Nik mir bedeutet. Ich rufe ihm, dass ich auf die andere Gratseite (Süd) wechsle und er auf der Nordseite bleiben soll, so wäre ein Sturz über die Gratkante gesichert. Nach 30 Metern dann plötzlich ein Ruck, das Seil strafft sich und zieht kurz an mir. Ich stehe aber gut und der Firngrat bremst den Sturz auf der anderen Seite im Nu. Kurz warte ich und versuche, über die Spannung des Seils herauszufinden, ob Nik wieder weiterklettert, was er nach zehn Sekunden wieder tut. Ich laufe also ohne Sichtkontakt weiter, denn wir müssen das Seil möglichst straff halten. So geht es dann die letzten Meter zu einem Plateau vor dem Hauptgipfel. Hier sichere ich an einem Block nach. Wie aus dem Nichts ist der Wind plötzlich weg, obwohl wir theoretisch windtechnisch recht exponiert stehen. Krasser Kontrast zur Wand, in der wir teilweise senkrechten Spindrift von unten abbekommen haben. Wir halten inne, trinken und reden kurz darüber, was passiert ist: die plötzlichen Wechsel der Schneebedingungen auf der anderen Seite waren wohl stärker als auf meiner Seite. So rutschte unter Niks Füßen der Pulverschnee ab.

Disclaimer: Stürze auf Hochtouren sind ein sehr kritisches Thema. Wir haben die Situation und ihre Entwicklung die letzten beiden Tage ausgiebig reflektiert und besprochen. Sämtliche Entscheidungen, die wir bis zu diesem Punkt getroffen haben, haben wir im Retrospekt reevaluiert. 
Eine solche Eiswand hat eine gewisse Ernsthaftigkeit, ein Rückzug nach (spätestens) der Hälfte würde mehr Zeit (und auch Material) fressen, als eine "Flucht" nach vorne. Für einen Rückzug war kein triftiger Grund gegeben. Zu Beginn hat alles gepasst, gegen Ende hin hätten wir ein paar Pausen länger gestalten müssen/können. Trotz der langen Pause am Morgen (wegen des Sturms) war ein Einsteigen in die Wand unserer Einschätzung nach noch zu verantworten, wir waren um 19:30 Uhr an der Hütte. Das ist nicht (zu) spät. Wichtig und richtig war die Entscheidung, den Grat zu sichern und das eben über die Firnschneide zu tun. 
Was bleibt? Eine Erfahrung, aus der (jetzt nicht nur) wir beide lernen können und zuletzt eben eine Geschichte.

Während einer solchen, größeren und längeren, Tour ändert sich die Moral ständig. Zuerst freut mensch sich auf die Wand, dann wünscht mensch sich den Gipfel herbei und kurz bevor der erreicht ist, dann die Hütte, das Auto oder das eigene Bett. Bei uns ist das alles noch fern, der Gipfel steht erst noch in 50m bevor. Es gilt (wie immer), konzentriert zu bleiben.
Von unserem Rastplatz auf dem Plateau bis auf den Gipfel gibt es noch nette Kletterei, laut Führer wohl 3a, aber wir beide haben's als leichter empfunden.

der Hauptgipfel, der weitaus weniger besucht wird als der Madonnengipfel im Hintergrund

Schnell trinken und dann absteigen. Der Normalweg ist mit Eisenstiften und Sicherungspunkten ausgestattet (eine andere Welt!) und der imposante Bergschrund mit einer Aluleiter ganz im Himalaya-style (Mist, das war es mit "by fair means"...) ausgestattet. Auf der Hütte werden wir später sehen, dass es eine festgelegte Aufstiegsrichtung für den Aufstieg auf den Madonnengipfel gibt, um Staus zu vermeiden. Der Gletscher ist trotz des Schneefalls (es gab nur wenig, bzw. viel wurde auch weggeblasen) aper und jede Spalte ist offen. Auf dem blanken Eis geht es schnell runter. 

ein bisschen Himalaya in den Alpen: Nik am Überwinden des Bergschrunds des Normalwegs


wild und eindrucksvoll: der Bergschrund am Normalweg

Nun ist "nur noch der Weg zur Hütte zu finden". Dass im Blockgelände unterhalb des Gletschers alles gleich nach (Nicht-)Weg aussieht, macht die Sache nicht einfacher. Trotzdem kommen wir irgendwann an irgendeine Stelle, ab der dann plötzlich Steinmännchen in rauen Mengen (sich hier zu verlaufen wäre fast möglich, aber es gibt tatsächlich so viele parallele Pfade...) zu finden sind.
Der Abendsonne entgegen geht es dann auf dem richtigen Weg gen Hütte. Nik versucht, die Fetzen Handyempfang, die es ab und zu gibt, zu nutzen und seine Schicht am Sonntagmorgen loszuwerden, damit wir die Möglichkeit auf eine Nacht in der Hütte haben. 

dem Abendlicht entgegen geht's Richtung Hütte. Wimmelbild: wieviele Steinmännli sind sichtbar?

Am Rifugio Vittorie Emanuele II angekommen aber zeigt sich, dass kein einziger Platz frei ist (zum Regenerieren und Trinken können wir zwischen Treppe und Trockenraum als Sitzplatz wählen), und sowieso haben wir beide damit gerechnet, dass es 'ne lange, harte Aktion geben wird. Daher wählen wir den weiteren Abstieg zum Auto und freuen uns, wieder die Möglichkeit zu einer Trinkpause auf dem Weg zu haben.
Am Auto angekommen dann Saus und Braus, zumindest im Vergleich zu den vergangenen 28 Stunden, die seit unserem Aufbruch vom Parkplatz vergangen sind. Rogan Josh aus dem Glas, Räuchertofu, Obst, Almdudler und Mate für die Fahrt. 
Naja, und 'ne Tour ist eben erst im Tal (das in unserem Fall wohl eher das Zuhause ist) komplett aus, und so rollen wir mit (geschätzt) einem Milliliter Diesel im Tank ins Tal und versuchen, eine Tankstelle mit Automat zu finden, die nicht nur irgendwelche komischen Clubkarten annimmt. Hier wäre die Aktion "Gran Paradiso NW-Wand" fast gescheitert, aber nach fünf oder sechs angefahrenen Tanken dann ein Treffer. Vollgetankt geht's über den Bernardinotunnel zurück in die Schweiz und ich sinke zufrieden am Sonntagmorgen um fünf Uhr ins Bett. Danke für die zwei (ich runde einfach mal großzügig auf) unvergesslichen Tage, guten Unterhaltungen und natürlich deine Bilder, Nik!
Nächstes Mal dann im Fels oder Schnee!

Gran Paradiso Nordwestwand
600m, 55°, 3a (?), D-
Schöne Eiswand (ehemalige Firnwand), deren Tage vermutlich gezählt sind. Zumindest eine richtig gute Wintersaison ohne harten Sommer im Anschluss sollte sie bekommen, sonst wird's die nächsten Jahre nicht nur gefährlich. 
Bei den aktuellen Bedingungen als "normale" Hochtour nicht zu empfehlen; Eisklettererfahrung macht Sinn, da viel Blankeis. 
Eintrag auf gipfelbuch.ch

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